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SIDO – PAUL

© URBAN, GOLDZWEIG, UNIVERSAL

Genre: Deutschrap

Studioalbum #9 wird zur Therapiestunde. Die letzten zwei Jahre haben auch bei Deutschlands größtem Rapper Spuren hinterlassen: Mit der Pandemie schlitterte Paul Würdig in eine Drogensucht, die ihn die Ehe und auch beinahe sein Leben kostete. Umso logischer, dass er dieses Album sich selbst und seiner Familie widmet.

BACKGROUND

Wer in den letzten Wochen irgendein großes deutsches Wochenmagazin oder eine der großen (nicht-boulevardesken) Zeitschriften aufgeschlagen hat, wird vermutlich über das ein oder andere Interview mit Sido gestolpert sein. Wer seine Stunden lieber auf YouTube verbringt, hat mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Gespräch zwischen Sido und Aria Nejati gesehen, das man mit Fug und Recht zu einem der besten Interviews der vergangenen Jahre deklarieren kann.

Der Inhalt all dieser Gespräche ist ähnlich: Sido spricht über seine Abgründe, seinen Drogensumpf, die sexuellen Eskapaden, den Absturz, den Aufenthalt in einer Klinik, dem Scheitern seiner Ehe, dem Versagen als Vater, das nicht Vorhandene Verhältnis zu seinem eigenen Vater. Er spricht auch über eine Voicemail von Kool Savas, der sich große Sorgen um seinen Freund machte und fast in Tränen ausbrach, was bei Sido einen großen Ausschlag gab, um sich in Therapie zu begeben. Kokain wurde ihm zum Verhängnis.

Jetzt, wenige Monate nach erfolgreichem Entzug, hat er auch musikalisch mit diesem Kapitel abschließen wollen. Das Schreiben diene ihm schon immer als Therapie. Die 13 neuen Songs (ohne Intro) reißen diese turbulente Lebensphase an. Wie fast immer standen ihm die Beatgees und DJ Desue zur Seite, auch Kenay ist wieder mit von der Partie.

Sido hat es in den vergangenen Jahren wie kein anderer deutschsprachiger Rapper geschafft, die Grenzen zwischen Rap und Pop verschwinden zu lassen. Fast jeder Singledrop wurde zu einem großen kommerziellen Erfolg. Die einstige Rohheit ist gewichen, der Zorn, die Verzweiflung des Karrierestarts verpufft. Aber das hat Sido immer schon betont – er schreibt nicht gern über die Vergangenheit, sondern lieber über die Dinge, die ihn zum jeweiligen Zeitpunkt beschäftigen. Das klingt dann auch dementsprechend unterschiedlich. Auch auf Paul zeigt Sido seinen typischen Rapstil, den er gerne mit einfach anzuhörenden Hooks paart. Allerdings versucht er sich manchmal auch in für ihn ungewohnten Gefilden.

Auf Grund der thematisch sehr stark zusammenhängenden Texe, kann man Paul durchaus als Konzeptalbum bezeichnen.

TRACK BY TRACK

ATMEN

Nachdem der Therapeut im Intro sämtliche Teilnehmer der Gruppenstunde aufrufen hat lassen, bittet er Paul sich vorzustellen. Das macht er gütiger Weise gleich im ersten Track des Albums Atmen. Ich bin eindundvierzig Jahre und die Tage war’n wie Atmen unter Wasser

Darum sitz’ ich an der Bar, volles Glas, volle Nase, völlig kafa. Sehr tiefer Beat, sehr angenehm. Sidos Intros sind in der Regel immer gelungen – zumindest auf den ersten Alben seiner langen Diskografie – und auch hier bekommt man wieder die altbekannten, wohligen Gefühle, wenn Sidos Rap beginnt. Der Text ist ehrlich, detailliert, obwohl er immer noch genug Spielraum lässt, um selbst erahnen zu können (oder zu müssen) wie es ihm ergangen ist. Sido spricht davon, dass er gar nichts mehr spürt und sich nur noch betäuben oder zuballern kann, damit noch irgendeine Regung stattfindet. Ein Hilferuf, versteckt in sehr mächtigen Bässen und Synthis. Die erste Vorstellung in der Therapie wurde damit gegeben.

VERSAGER

Natürlich geht man auch zum Psychologen, um den Ursachen diverser Probleme oder Traumata auf den Grund zu gehen. Auf Versager erzählt Sido von seinem Vater, der nie da war, der ihn und seine Mutter im Stich gelassen hat und den Konsequenzen, die dieses Verhalten mit sich brachte. Eine echte Abrechnung auf einem sehr feinen, harten Beat, dessen Hook dank Kenay fast schon unschuldig daherkommt. Der Track spielt gekonnt mit Stimmungswechseln, vereint die Aggression Sidos in den Strophen mit der elegischen Stimme Kenays. Storytelling wie es nur noch wenige im Deutschrap machen – direkt aus der Seele, mit wenig Schonung auf die eigenen Gefühle. Banger-Track.

ROLLENDER STEIN

Dass Sido gerne und immer wieder singt, ist bekannt. Bei Rollender Stein widmet er seinen vier Kindern eine Gesangsode in der Hook, die sich auch gut anfühlt. Ist bei Rappern ja auch nicht immer der Fall. Hier spricht definitiv Paul und weniger Sido, er entschuldigt sich bei seinen Kids für sein Versagen als Vater. Alteingesessene Sido-Fans ohne Herz werden diesen Song ob seiner Softness verteufeln, tun ihrem Idol dann aber auch großes Unrecht. Rollender Stein ist ein wunderbar durchorchestrierter, fein aufgebauter, ehrlicher und gelungener Track, der sowohl dem Künstler Sido als auch der Privatperson Paul wichtig war und auch gerecht wird.

GAR NICHT MAL SO GLÜCKLICH

Estikay unterstützt Sido auf Gar nicht mal so glücklich. Ein weiterer ruhiger Track, der das Klavier im Beat nach vorne stellt und Sido in der Strophe sehr dezent auftreten lässt. Die Schlaflosigkeit ist ein Motiv, das sich auf Paul durchzieht und auch hier thematisiert wird. Müsste man den Sinn der Lyrics in einem Satz zusammenfassen, käme man auf die altbewährte Weisheit „Glück kann man nicht kaufen“. Egal was man ballert, wen man sich in welche Suite auch einlädt – am Ende geht’s um was anderes. Feiner Track, wenn auch mit wenig Divergenz.

UNTEN/OBEN

Neben Sidos allgemeinem sprachlichen Talent, ist es vor allem Karen, die auf Paul glänzt. Die junge Sängerin bekommt auf Unten/Oben ihren ersten Auftritt und darf Sido auf seinem Ausflug in die Oldschool-Rapwelt folgen. Die beiden harmonieren herausragend, Sido auf diesem Beat und Sample ist etwas, das man sich gerne auch mal auf 14 durchgängigen Tracks wünschen würde. Die Berg- und Talfahrten des Lebens und der Karriere ist ein gern verwendetes Thema bei Rappern – so smooth hat es aber schon lange niemand zusammenbekommen, wie Sido und Karen auf dieser Nummer. Auch immer wieder cool: Das Sampling von Sidos Bergab, das uns noch einmal begegnen wird.

ZWISCHEN DEN WOLKEN

Karen bleibt nicht der einzige Star – Tarek K.I.Z stattet einen Besuch ab und beweist einmal mehr, dass er zu den besten und sprechgewaltigsten Künstlern der Szene gehört. Klar, wenn Tarek dabei ist, wird es düster. So verwundert es nicht, dass auf Zwischen den Wolken über Selbstmord gesprochen wird. Der synthilastige Beat unterstreicht die Aussagen der Beteiligten, diese zweieinhalb Minuten wird man rasch noch einmal erleben wollen. Karens Hook makellos, die Strophen der Rapper auf Augenhöhe, nicht sehr fröhlich, aber mit viel Nachdruck. Ein großes Highlight des Albums.

WENIG KÖNIGLICH

Hier fehlt die Hook oder besser gesagt: Wenig Königlich hätte noch mehr aus sich machen können. Das Reimschema zu Beginn der ersten Strophe ein wenig gewöhningsbedürftig, die Pre-Hook versucht viel wieder gutzumachen, vergisst aber dann den Schritt zur Explosion zu machen. Sido bleibt hier ein bisschen hinter seinen Möglichkeiten, auch wenn man die bewusste Reduktion wohl auch goutieren muss.

3 Monde

Rastlosigkeit, schlaflosigkeit: Es ist ein sehr ehrlicher und teils auch bedrückender Text, den Sido hier präsentiert. Kenay mit der sehr aufwühlenden Hook – Wenn du Drogen hast, dann lohnt sich, dass ich noch bleibe – Sido mit der Einbildung, dass er alleine aus den Drogen rauskommen würde. Schema ist ganz ok , ein bisschen zu glattgebügelt das Ganze.

Medizin

Die Selbstzerstörung geht in Medizin weiter, einer Vorabsingle. Jamule mit der Hook in diesem sehr elektronisch aufgeladenen Track, der Sidos Eskapaden thematisiert. Den Abgrund vor Augen und wissend, dass sein Lebensstil keinen langfristigen Sinn hat, feiert er trotzdem weiter – alles andere würde auch nichts bringen. Das bringt mich um (Poah), das killt mich – Ich sollte aufhör’n, aber ich will nicht. Sido wendet sich auch hier an seinen Sohn, seine Vatergefühle vergisst er offenbar auch nicht im größten Rausch. Ziemlicher Banger das ganze Ding.

Sterne

Der Zusammenbruch. Nach der Party und der Abhängigkeit sitzt Paul jetzt also in der Gruppentherapie. Jetzt wird’s richtig persönlich, ruhig und aufrichtig. Sterne zeigt Sido von seiner besten Seite, den mittlerweile schon etablierten Pop-Hooks samt eigenem Gesang umgarnt von schonungslosen Lyrics. Der dezente Beat unterstützt ihn, Sido holt aber auch alles aus ihm heraus. Ein Song, den man mitfühlen kann und der es vermeidet, ins Selbstmitleid abzudriften. Bozza bekommt auch eine Strophe, hier wird gekonnt einmal mehr das Bergab-Sample eingespielt. Sein Part harmoniert angenehm mit Sidos, wodurch ein wirklich gelungener Song entsteht. Die ruhigen Dinger sind bei Siggi oft die besten.

Irgendwo

Ab in den Club. Wer Ausgang bekommt, soll ihn auch nützen. Irgendwo bricht mit üblichen Sido-Klängen, hier wird im Uptempo gefeiert. Noch kein Rave im herkömmlichen Sinn, aber schon ziemlich nahe. Diese Experimentierfreude ist man nicht gewohnt, darf aber gerne wieder kommen. Wieder untermalt Sido hier seinen Freiheitsdrang mit einem rastlosen Beat, irgendwann muss er doch endlich ankommen?! Kann man nur feiern – mit ihm.

Liebst du mich & Mit Dir

Zum Abschluss folgen noch zwei Radio-Hits: Liebst du mich und Mit Dir. Da gehen die Hooks schnell ins Ohr, da wird er sich nicht zu schade, seine Liebe zu gestehen und einfach zu sagen, wie er sich fühlt. Schlussendlich bleiben die Erkenntnisse: Liebe scheint am Ende des Tages die wirklich präferierte Droge von Paul zu sein. Und diese Pop-Rap-Dinger hat er im Laufe der Jahre einfach ziemlich perfektioniert. Da greifen sämtliche Räder ineinander. Man bekommt zwar keine vollkommenen Rap-Banger, aber immerhin noch sehr versöhnliche Klänge. Auch wenn Mit Dir noch eine Ecke schnulziger ausfällt und man dieses Gebilde wirklich gern haben muss – also ähnlich fühlen muss wie Sido – um den Song komplett zu fühlen.

FAZIT

Von allen neun Solo-Alben ist Paul – wie schon oft erwähnt – das persönlichste. Und deshalb auch ein ziemlich gutes. Sido geht schonungslos mit sich ins Gericht – auch mit uns Hörern – und schließt durch die vorgestellten 14 Songs ein bitteres und dunkles Lebenskapitel ab. Diese Platte hat sicherlich kathartischen Wert gehabt, weshalb sie für den Künstler – aber auch den Mensch – extrem wertvoll ist. Wir bekommen das beste beider Sido-Welten: teilweise sehr feinen Rap, aber auch den ein oder anderen Radio-Hit. Außerdem hat man nie das Gefühl, dass er nicht jede einzelne Silbe so meint, wie er sie sagt. Kopf hoch, und bravo.

8,2/10