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Genre: Rap
Es geht nur so dahin mit den Überraschungsreleases – dieses Mal hat uns niemand Geringeres als Tyler, the Creator mit einem unerwarteten Album beglückt. Wie schon fast üblich an einem anderen Tag als Freitag veröffentlicht – weil Tyler ja bekanntlich kein Fan davon ist, dass man neue Musik erst am Wochenende hören kann. Don’t Tap the Glass ist das neunte Studioalbum des Ausnahmemusikers und kommt nur wenige Monate nach der Veröffentlichung seines letzten Werks Chromakopia.
Normalerweise folgen seine Alben immer einem Konzept, stellen ein Alter Ego und eine Geschichte ins Zentrum – mit unterschiedlichen Themen, die gerade in Tylers Leben eine Rolle spielen. Dieses Mal ist er die Sache ein bisschen anders angegangen und hat auf ein Alter Ego verzichtet – und sein Konzept ist die Betonung, dass es sich um kein Konzeptalbum handelt.
Nachdem Complex eine vermeintliche Featureliste mit Gästen wie Kendrick Lamar oder Earl Sweatshirt leakte, sprach Tyler selbst ein Machtwort und gab zu verstehen: „Leute, schraubt eure Erwartungen runter, das ist kein Konzeptalbum.“ Und die Superstargäste sind auch nicht dabei. Dafür hat er aber relativ rasch ein paar Regeln gedroppt, die man beachten soll, wenn man das Album hört:
- Körperbewegung. Kein Sitzen.
- Sprich nur in Ehren. Lass den Ballast zu Hause.
- Nicht ans Glas fassen.
Ein Album ohne Konzept, dafür mit Regeln? Ich glaube, da konnte man schon durchblicken, dass Tyler wieder etwas im Schilde führt. Die zehn Songs dienen nämlich in erster Linie dem schamlosen Tanzen, der bedingungslosen Körperbewegung, die im Internetzeitalter verloren ging. Menschen würden darauf verzichten, sich einfach zur Musik zu bewegen – so wie es ihnen in den Sinn kommt –, da sie in der ständigen Angst leben, gefilmt zu werden und schlussendlich am Rand zu stehen, als Meme zu enden.
Deshalb hat Tyler auch eine Listening-Party für 300 Leute ohne Kameras und Handys geschmissen – und damit, laut eigener Aussage, eine der besten Nächte seines Lebens verbracht. Die Platte ist nicht dafür gemacht, stillzusitzen – man muss sie in voller Lautstärke hören. Don’t tap the glass – leg mal das verdammte Handy weg und genieß die Musik, die Kunst, das Zusammenleben, den Moment.
Ihr seht schon: Selbst die als konzeptlos angekündigten Alben haben bei Tyler immer noch mehr Hand und Fuß als ganze hirnumwundene, verkopfte Gedankenexperimente bei anderen Rappern.
Tyler wandelt hier soundtechnisch auf den Spuren seines wohl besten Albums IGOR – das heißt, er legt wieder großen Fokus auf elektronische Sounds, auf discoartige Konstrukte, mit viel Gesang, aber immer noch genügend Rap.
Man bekommt hier schon ein ordentliches Oldschool-Feeling – allerdings mit typischem Tyler-Anstrich, also auch sehr modernen Stimmungen. Neo-Soul, ein bisschen 90s R&B und natürlich verspielte Raps sind mit dabei.
Natürlich könnte man meinen, dass sich der Release selbst nicht so ernst nimmt – dass man hier irgendwelche B-Seiten zu hören bekommt, weil das Album so spärlich und kurz ausfällt. Diese Sorge wird aber sehr rasch genommen. Ich mein: Pharrell Williams ist hier mit dabei?! Die Pace des Albums ist herausragend, alles fließt wie von selbst, die Energie ist unfassbar hoch – und wird noch höher, wenn man sich an den Rat hält und die Platte relativ laut hört. Da kommt man gar nicht mehr aus der Bewegung raus – da wird das Konzept des Konzeptlosen fantastisch getroffen. Es ist wirklich ein Erlebnis, das man in der knappen halben Stunde erfahren darf.
Die Platte startet mit „Big Poe“ – einem unglaublich aggressiven Track, der mit großen elektronischen Anteilen daherkommt und deutlich an die 90er erinnert. Die Regeln werden noch kurz vorgestellt, und schon geht’s richtig los. Pharrell ist mit dabei, es wird sehr viel geflext – mit teilweise absurden Bars, die aber sowohl den Charakter des Albums widerspiegeln als auch einfach Tylers verspielte Seite zeigen.
Man muss nur auf das Cover blicken, um zu sehen, dass manche Dinge nicht ganz so ernst gemeint sind, dass sich Dinge verschieben können – und dass die Prahlerei (bei so einer dicken Goldkette) wohl eine große Rolle spielt.
Bei diesem Opener bleibt jedenfalls kein Fuß und keine Hüfte ruhig – der Synth zum Schluss und der generelle Beat laden einfach zum Herumwerfen von Gliedmaßen ein.
So geht es mit „Sugar on My Tongue“ weiter. Ein unwiderstehlicher Drive, Hammerbeat – ein bisschen dreckig, aber voll nach vorne ziehend.
„Tell your mama, tell your daddy, tell the world“ singt er ansteckend – und verspricht ganz zum Schluss noch: „I’ll take you on a date.“ Ich finde, man merkt auf diesem Album stark, wie die Neptunes die Rapwelt immer noch beeinflussen – viele Produktionen könnten auch von Pharrell und Chad stammen.
Jedenfalls geht es nahtlos mit „Sucka Free“ weiter – einer Befreiungshymne von äußerlichen Einflüssen und einer selbstbewussten Ode an sich selbst. „I’m THAT guy“ wird in der Hook gesungen, während die Rapstrophen wieder mit feinem Flow einen gelungenen Kontrast bilden.
„Mommanem“ ist anschließend nur ein sehr kurzer, minimalistischer Track, in dem wieder geflext wird – Tyler stilisiert sich hier zum Größten überhaupt. Außerdem dient das kurze Lied vor allem als Aufbau für das folgende „Stop Playing With Me“. Da wird aus allen Richtungen gefeuert – extrem aggressiv, was auch die Botschaft von Tyler unterstreicht: Legt euch nicht mit mir an – das ist sinnlos. Die Produktion ist herausragend – wie alles auf dem Album –, aber mit jedem Hördurchgang gibt es noch mehr Details zu entdecken, die zusätzliche Tiefe offenbaren.
Mit „Ring Ring Ring“ kommt der erste komplett makellose Track des Albums.
Ein glitzernder Song, der den Auftakt zur eher verspielteren, sanfteren zweiten Albumhälfte bildet. Der Track ist voller typischer Tyler-Elemente, mit opulenter Produktion, viel Funk, Synthesizern und Field Recordings.
Die Sehnsucht nach Liebe steht im Zentrum – es geht um erste Annäherungsversuche und den Wunsch nach Beziehung, was durch die ständigen Klingelton-Einspielungen großartig untermalt wird. Ein Banger, wie man ihn sich wünscht, aber nach dem aggressiven Start nicht unbedingt erwartet.
Diese Emotion bleibt aber nicht lange – mit dem titelgebenden Track „Don’t Tap the Glass“ kehrt die aggressive Energie zurück. Ich liebe den Beat – vom Klavier über die Drums – aber auch den Flow von Tyler, der einfach straight durchrappt, ohne links und rechts zu schauen. Wieder mit sehr amüsanten Lines. Der zweite Teil des Tracks hört auf den Namen „Tweakin“ und bringt noch mal eine neue Form des Hypes mit – einfach vollkommen in die Fresse. Da kommt man mit mehr Power raus, als man reingegangen ist.
Das Albumende wird mit „Don’t You Worry Baby“ eingeläutet – einem Feature mit Madison McFerrin, die hier die vokale Hauptarbeit leistet. Ein Moment, in dem man mal durchschnaufen kann – der sich aber auch brutal ins Ohr brennt. Ein schöner, soul-funkiger Song. Diese Art Tracks kennt man von Tyler – diesmal ist es eben nicht Kali Uchis, sondern Madison. Das komplette Fehlen von Tyler ist dabei durchaus spannend.
Der vorletzte Track „I’ll Take Care of You“ bringt auch noch Yebba mit – was mich sehr freut, weil ich ihre Karriere schon lange verfolge und ihr Album damals auch reviewed habe. Sehr cool, dass sie jetzt mit Tyler auf diesem innovativen und aufwendigen Track zusammenarbeitet. Er sampelt sich hier selbst und gräbt die Drums von Cherry Bomb wieder aus. Dieses Mal klingt aber alles viel flüssiger, abwechslungsreicher, schöner.
Nach diesen zwei Tracks, in denen Tyler nur in der Rolle des hervorragenden Produzenten zu hören war, kommt er im Closer „Tell Me What It Is“ wieder vors Mikrofon zurück. Das Thema wird dabei überraschend ernst – er fragt sich, warum er keine Liebe finden kann. Das bekommt man aber nur mit, wenn man sich von der verträumten Atmosphäre nicht einnehmen lässt – was mir unmöglich scheint. Ein treffender Closer für ein kurzes, aber energiereiches Album.
Tylers hat das Konzept des bedingungslosen Tanzens mit diesem Album perfekt umgesetzt. Nicht einmal die kurze Dauer stört hier – es ist ein spaßiges Werk mit herausragender Produktion und unzähligen Momenten, die man immer und immer wieder erleben möchte.
Starke 8/10
Früher Sängerknabe, heute zwischen Fußball, Football und viel Musik. Im Herzen immer Punker.