Label: INTERSCOPE RECORDS

Genre: Pop und noch einiges
Gibt’s denn schon wieder eine neue Sabrina Carpenter? Oder eine neue Rihanna? Oder eine neue Olivia Rodrigo? Wer sich durch das neue Album von Reneé Rapp hört, wird immer wieder an diese Namen erinnert. Zu präsent sind die Parallelen – und damit drängt sich eine Frage auf: Ist das hier bloße Kopie oder doch ein eigener Charakter?
Reneé Rapp ist eine sehr, sehr gute Sängerin und Musicaldarstellerin, die mit „Mean Girls“ schon am Broadway gefeiert wurde. Auch in der Filmadaption war sie dabei und außerdem ergatterte sie eine Rolle in der Serie The Sex Lives of College Girls – es läuft also alles andere als schlecht.
Im Popgeschäft ist sie mit ihrem Debüt „Snow Angel“ (2023) gelandet – und hatte im selben Jahr mit „Not My Fault“ feat. Megan Thee Stallion ihren bislang größten Erfolg. Platz 2 der Bubbling Under Hot 100, Auftritt bei Saturday Night Live, womit Reneé definitiv zu den vielversprechenden Newcomerinnen im US-Pop zählt.
Jetzt ist das zweite Album erschienen – Bite Me –, auf dem sie sehr viele Themen unterbringen möchte: zwischen Erschöpfung und Identitätssuche, aber auch mit viel Spaß und vor allem sehr vielen unterschiedlichen Stilrichtungen. Pop schwirrt über allem, aber es kommen doch noch einige andere Genres dazu. Vielfalt als Schlüsseleigenschaft – der man allerdings nicht immer folgen kann. Diese Platte ist im Grunde genommen ein ziemlich unausgegorenes, teilweise sehr chaotisches und manchmal auch ein bisschen mühsames Hörerlebnis.
Dabei will ich zunächst betonen, dass Reneé wirklich singen kann. Sie hat eine wundervolle Range, fühlt sich in mehreren Registern wohl – was, auf die Vocals bezogen, sowohl beeindruckend als auch sehr angenehm ist. Diese Fähigkeiten kaschieren trotzdem mehr als einmal sehr durchschnittliche Produktionen, die nicht einmal von Reneés Attitüde gerettet werden können. Denn im Zentrum steht natürlich immer sie selbst – mit allem, was ihr durch den Kopf geht, und was sie meistens auch sehr unverfroren zum Ausdruck bringt. Ein bisschen edgy, wie Sabrina es wieder in Mode gebracht hat – nur dass ich ihr das meistens nicht ganz abkaufe. Das kommt oft gezwungen und unnatürlich rüber. Es kann sein, dass ich ihr Unrecht tue und sie einfach das Pech hat, mitten im Sabrina-Carpenter-Hoch zu hängen – aber wenn man die Platte hört, ist Sabrina nicht die Einzige, die einem in Erinnerung gerufen wird.
Das Album startet mit der Leadsingle „Leave Me Alone“, einem frechen Song mit extrem eingängigem, einfachem Gitarrenriff und einem Text, der klar sagt: Reneé hat überhaupt kein Interesse an den Meinungen anderer über sie. “Lass mich einfach in Ruhe – interessiert mich nicht”. Der Song ist redundant und gleichzeitig zweischneidig: Zum einen kann er wegen der Gitarre nerven, zum anderen hat er einen Refrain, der sich brutal einbrennt – und den man schon sehr cool finden kann. Dieses Call-and-Response-Ding muss man einfach mögen. Und schon bei diesem Opener hat man zum ersten Mal das Gefühl, dass sich Reneé vielleicht ein bisschen zu viel von Kolleginnen abschaut: Der verspielt-freche Vortrag erinnert an Kesha, Teile der Melodie an Rihannas „Shut Up and Drive“, dann wieder Olivia-Nuancen, wenn das Lied härter wird.
Aber egal – „I wanna have fun“, beteuert Reneé – dann lassen wir sie mal machen.
Also, was kann man nach so einem Radio-Poprock-Song erwarten? Geht’s so weiter? Was will sie uns erzählen? So einfach lässt sich das nicht beantworten. Bite Me ist eben eine Platte, die zeigen möchte, wie viel Reneé kann, wie vielseitig sie ist – was sie im Endeffekt leider zum Scheitern verurteilt. Ähnlich wie Addison Rae, die so dermaßen von ihren Idolen inspiriert wurde, dass sie auf die eigene Persönlichkeit vergaß, tappt Reneé von einer Imitation in die nächste.
Beginnen wir mal mit den Balladen. Es ist naheliegend, dass jemand mit diesen stimmlichen Voraussetzungen große Gefühlssongs bringen will – wäre auch verschwendetes Talent, wenn man das nicht macht. Nur stehen die Balladen im krassen Gegensatz zum Rest des Albums. Sie setzt zu sehr auf einen klassischen, reduzierten Ansatz mit Klavier und spärlicher Unterstützung „Sometimes“ ist das erste Beispiel – grundsolide gemacht, sehr viel Herzschmerz, aber absolut nichts, was in Erinnerung bleibt. Kein Element sticht heraus, nichts bringt echte Spannung. Ist okay, mehr nicht. „I Can’t Have You Around Me Anymore“ bringt dann die Gitarre mehr ins Zentrum, aber sonst passiert wenig bis nichts. Reneé holt in der Bridge ein bisschen aus und will einen Drive aufbauen, was dem Song guttut – ihn aber nicht rettet. Der Rest klingt wie eine B-Seite von Olivia Rodrigo – sogar die Chöre sind ähnlich arrangiert.
Olivia hört man noch öfter auf dem Album – insbesondere bei „That’s So Funny“ und dem Closer „You’d Like That Wouldn’t You“. Dieses Lied ist edgy ohne Ende – zumindest werd ich das Gefühl nicht los – und hat einen wirklich bescheidenen Refrain. Poprockig und grungig, was in dieser Deutlichkeit sehr überraschend kommt und einfach nicht zum restlichen Konzept des Albums passt. Andererseits stellt man sich nach dem Song sowieso die Frage: Welches Konzept hat Bite Me? Ist es ein Imitationswettbewerb? Ich kann’s nicht sagen – aber sie könnte Olivia definitiv als Stimmdouble aushelfen.
Selbst die richtig coolen Songs haben einen Beigeschmack: „Kiss It Kiss It“ holt sofort ab, ist aufgeweckter, poppiger und glitzernd – und klingt dementsprechend nach Sabrina Carpenter. Sehr verspielter, bisschen verruchter Text, ähnlicher melodischer Aufbau. Das ist einfach bitter – aber trotzdem kann man den Song feiern. Wie mit Abstrichen auch „Good Girl“, wo mehr 80er-Synthis daherkommen, und man stilistisch dasselbe sagen kann wie über „Kiss It Kiss It“. Irgendwann driftet Reneé nach einem gelungenen Spannungsbogen zum Start ins Seichte ab – und vergisst auf ihren eigenen Charakter.
Und dann gibt’s so Tracks, bei denen man beim besten Willen nicht weiß, was man darüber denken soll: „Shy“. Selten hört man einen Song, bei dem der Unterschied zwischen richtig guten und brutal miesen Passagen so groß und nah beieinander liegt wie hier. Die Strophen sind locker, wieder rockiger, 2000er-Stimmungen kommen auf, und auch der Refrain kann – trotz seiner Simplizität – noch recht gut mithalten. Und dann kommt in der Bridge eine Sprechgesang-Passage daher, die fast alles zerstört. Unpassender geht’s nicht – ein Break im wörtlichen Sinn, komplett unnötig. Als ob man ein fast fertiges Puzzle instinktiv vom Tisch schlägt – und man steht wieder mit nichts da. Bitter!
„At Least I’m Hot“ und „I Think I Like You Better When You’re Gone“ machen einen leicht überdurchschnittlichen Job in ihren jeweiligen Metiers – sind also okaye Popsongs bzw. Balladen. Aber: „Mad“ und „Kiss It Kiss It“ zähle ich zu den Highlights, weil Reneé noch am meisten zeigt – klassischer Poprock steht ihr, stimmlich wie textlich. Hier passt das Gesamtbild.
Insgesamt ist dieses Album sehr chaotisch und weiß nicht, wohin es eigentlich will. Es ist sprunghaft in den Genres, hat kaum einen roten Faden in Musik oder Story – und ist ein Paradebeispiel dafür, was rauskommt, wenn man zu viel auf einmal zeigen möchte. Instrumental sticht nichts hervor – und Reneés Stimme allein wird nicht reichen, damit man in zwei Wochen noch viel von Bite Me in Erinnerung hat. Eines der bittersten Pop-Alben des Jahres – weil mit Reneés Fähigkeiten alles möglich wäre. Übrig bleibt ein von Durchschnittlichkeit durchtränktes und vom Chaos regiertes Album.
Starke 5 von 10.
Früher Sängerknabe, heute zwischen Fußball, Football und viel Musik. Im Herzen immer Punker.