Label: Loma Vista

Genre: Alternative Pop
Dass sich Künstler:innen nach einigen Alben neu erfinden wollen, ist keine Seltenheit. Indigo de Souza macht mit ihrem vierten Album genau das – und versucht sich nun endgültig im Pop. Ein Wechsel, der sich auf den vorherigen Projekten schon ankündigte. Ob die begnadete Songwriterin ihre Stärken damit verspielt oder ob Precipice doch mehr als rein eingängige Melodien parat hält, schauen wir uns heute an.
Ich bin bekanntlich ein ziemlich großer Anhänger der Musik von Indigo de Souza und habe schon zwei ihrer Alben hier reviewed, war auch sehr angetan von ihrem Zugang, wie sie ihren katastrophalen Herzschmerz in ihrer Musik vertont hat. Indigo hat meistens auf starke Verzerrungen gesetzt, die ihre Zerrissenheit vortrefflich abbildeten – gleichzeitig hat sie aber auch immer wieder mit poppigen Arrangements geliebäugelt und damit auch die hoffnungsvollen Zeiten und Seiten zur Schau gestellt.
Und auch wenn in ihren Texten immer noch eher turbulente Liebesbeziehungen im Zentrum stehen, sind ihre Klänge mit der EP aus dem vergangenen Jahr Wholesome Evil Fantasy deutlich ausgelassener geworden. Ja, eigentlich war das schon ein ordentlicher Flirt mit Hyperpop und Stimmverzerrung, was ihrer Emotionalität aber keinen Abbruch tat. Natürlich haut einen so ein Genrewechsel im ersten Moment um – aber ich hab mich doch recht schnell damit anfreunden können, weil Indigo ihre Charakteristika beibehalten hat – ihre Stimme ist immer noch unverkennbar, und ihre Texte sind immer noch sehr am Punkt und nah am Herz geschrieben gewesen. Diesen eingeschlagenen Weg der EP setzt sie jetzt auf dem vierten Album Precipice fort.
Precipice – der Abgrund – das klingt natürlich schon vom Titel her recht düster und spiegelt das Leben am Limit von Indigo wider. Die junge Sängerin kämpft schon seit sehr vielen Jahren mit ihrer mentalen Gesundheit, insbesondere mit Panikattacken – und hat, wie man auf den vorherigen Alben hören kann, schon sehr viel durchmachen müssen. Dass ausgerechnet nach Fertigstellung dieses neuen Albums dann auch noch ihre Heimat Asheville im vergangenen September von Hurrikan Helene getroffen wurde und damit auch ihr gesamtes Hab und Gut durch die Flut zerstört wurde, ist quasi die Kirsche auf der „kanns-noch-beschissener-werden“-Torte gewesen. Trotzdem fand sich auch in dieser herausfordernden Zeit Hoffnung, und sie zog mittlerweile nach Los Angeles um. Dieses Album erinnert sie laut eigener Aussage an die Zeit vor dem Hurrikan – und gleichzeitig ist sie der Naturkatastrophe fast ein bisschen „dankbar“, weil sie lernen hat müssen, loszulassen und wie viel Kraft man aus Gemeinschaft ziehen kann. Das wird zum zentralen Motiv dieses Albums.

Wie gut sie sich schon in ihrer neuen Heimat an der Westküste eingelebt hat, teaserte die Sängerin ebenfalls schon an. Sie hat schon zwei neue Alben in der Hinterhand, die bald fertiggestellt sein sollen. Bis es so weit ist, widmen wir uns dem aktuellen Projekt, das mit „Be My Love“ eröffnet wird. Hier sagt sie: „I am not the things I have in my house / This is not the end / It’s not the end“ – das wird zu einem Mantra. Viel Synthesizer, viel Glitzer, sehr atmosphärisch, hoher Gesang, gute Entwicklung, wenn auch noch ohne die ganz großen Grenzgänger. Es ist ein verhaltener Start, ein bisschen raunzend und vor allem darauf ausgerichtet, einen klugen, stimmungsvollen Aufbau zum nächsten Song „Crying Over Nothing“ zu schaffen.
Diesen Song hab ich in Nope. Meh. Hot. schon besprochen, und ich muss sagen: Das ist mittlerweile einer meiner Lieblingssongs des Jahres. Dieser Song hat so einen wunderbaren Aufbau, einen fetten Bass, eine brutal umgarnende Melodie, die sich sofort einbrennt, versprüht so viel Euphorie durch Synthie und ihren Gesang – und obwohl ihr Herz wieder einmal gebrochen wurde, ist die Stimmung so hell, und man will sich einfach mit ihr durch den Kummer singen. Schwung ohne Ende, eben sehr treffende Synthis, die zum Ende noch mal alles raushauen. Die Dynamik holt mich stark ab, und ich kann in diesen Pop-Gefilden mit ihr sehr gut leben.
Umgekehrt gibt es aber auch Momente, wo sie zwar immer noch durch ihre stimmliche Einzigartigkeit auffällt, sich im Instrumental aber ein bisschen zu sehr auf der sicheren, seichten Seite bewegt. „Crush“ ist für mich ein Paradebeispiel dafür. Textlich immer noch sehr gut und selbstbestimmt – ich mein, sie erklärt hier ihrem Crush, wie man sie oral befriedigt: “You’re going in blind / I’ll tell you when I get there, get there / You’re doing it fine / I’ll tell you when I get there, get there” – aber dafür ist die Melodie alles andere als einen Höhepunkt auslösend. Relativ wenig Abwechslung, es ist ein Track, der immer gleich dahingeht. Nett, aber nicht berauschend.
Dafür kehrt die Dynamik auf einem Lied wie „Not Afraid“ zurück. Sehr breite, vielleicht auch ein wenig zurückhaltende Strophen, die sich in einen ausgelassenen Refrain entwickeln. Hier stecken sehr viele Details drinnen, sie spielt mit unterschiedlichen Effekten, die einen sehr runden Song samt Zuspitzung bilden. Natürlich sind ihr Gesang und ihre Authentizität im Text aber der Star – „I’m not afraid of dying anymore, I’m not afraid of living either“ als Schlüsselsätze dieses antreibenden Tracks. Ein Mutmacher – nicht nur für sie selbst, sondern auch für all jene, zu denen sie singt.
Dennoch ist der Tod ein Thema, das sich in ihrer Diskografie durchzieht und auch gleich im folgenden „Be Like Water“ weiter besprochen wird. Wo früher noch die komplette Verzweiflung an erster Stelle stand, findet man jetzt klarere und hellere Töne. Das Lied teasert immer wieder einen Höhepunkt an, kommt aber nicht ganz dorthin – da fehlt die letzte Konsequenz, ist aber trotzdem spannend genug komponiert, dass man doch einiges mitnehmen kann. Die Synthis klimpern, der Text ist passend: „Be like the water / Go where you’re going / Say what you need to / You know you’re dying / I won’t be sorry / And I won’t be silent / I’m temporary / I am an island.“
Die Lead-Single zu diesem Album war „Heartthrob“, und die lebt definitiv vom Drive, von der Gitarre, die dröhnt und raunzt und nur spärlich vom Synthie Unterstützung bekommt. Ein solcher Song ist eher dem klassischen Ansatz von Indigo zuzuschreiben – wieder mehr Rock, wieder klassischerer Aufbau – steht ihr einfach sehr gut, hat einen großen Drang und viel Befreiung – sicherlich ein Highlight der Platte.
Vernebelter und mysteriöser zeigt sich „Clean It Up“, das aber ebenfalls mehr in die Rock-Richtung geht – und man ist an diesem Punkt schlussendlich doch dazu geneigt zu sagen, dass sie sich da wohler fühlt, dass der Sound organischer klingt, dass sie sich da richtig ausbreiten kann. Dieser Song ist wunderbar berührend, gibt sich Raum, um sich zu entfalten, und zählt zu den Stärksten auf Precipice.
Auch die beiden folgenden Songs „Heartbreaker“ und „Pass It By“ zähle ich dazu. „Heartbreaker“ hat ein paar Americana-Einflüsse, ist textlich wundervoll geschrieben – „Heartbreaker you got my full attention“. Alle würden zu ihr sagen, dass die Zeit diesen Herzensbrecher verschwinden lassen wird, und sie freut sich schon sehr darauf, wenn sie sich umdreht und ihm zuwinken kann. „Pass It By“ schlägt wieder poppiger auf, und auch wenn manchmal der Gesang dünn daherkommt, wird im nächsten Moment wieder Druck aufgebaut. Dieser Song trägt jedenfalls ein bisschen Marina in sich – erinnert mich zumindest daran. Sie bleibt dem Motto des Albums treu: loslassen, sich am Leben freuen.
Also meistens funktioniert das mit dem Pop gut, trotzdem kann ich bei ein paar Tracks nicht ganz mitgehen. Der Closer ist wie der Opener ein bisschen zu behäbig, da passiert nicht viel – wie auch im relativ kurzen „Dinner“. Ich verstehe, dass sie mit Atmosphären spielen möchte, aber mich haut dieses langsame Tempo überhaupt nicht ab. Ziemlich bitter, weil die Texte in allen Liedern gut sind – und vor allem, weil der Einstiegs- als auch der Schlusssong eines Albums für Gelegenheitshörer schon ansprechend sein sollten.
Die Platte hat ihre Momente – Indigo kann auch Pop machen –, aber manchmal fehlt der letzte Feinschliff oder die letzte Prise Finesse, um an die starken älteren Alben anknüpfen zu können. Dennoch gibt es auf einer grundsoliden Platte ein paar echte Highlights einer Songwriterin, die mitten im Wachstum steckt – sowohl musikalisch als auch persönlich.
Wertung: Schwache 7 von 10
Früher Sängerknabe, heute zwischen Fußball, Football und viel Musik. Im Herzen immer Punker.