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JULIEN BAKER – LITTLE OBLIVIONS

© Matador Records

Anfang des Jahres veröffentlichte Julien Baker ihr drittes Studioalbum Little Oblivions. Die junge Singer-Songwriterin widmet sich dabei zur Gänze dem Kampf mit ihren inneren Dämonen.

BACKGROUND

Julien Baker macht es sich nicht leicht – schon gar nicht mit sich selbst. Die 26-Jährige wuchs in Tennessee auf, in einem sehr religiösen Umfeld. Früh spielte sie schon in ihrer Kirche vor, fühlte sich aber erst durch Bands wie Green Day oder My Chemical Romance zu einer alternativen Musikkarriere berufen. Ihr frühes Leben war geprägt von Drogenmissbrauch und der Angst vor dem Outing gegenüber ihren Eltern. Mit 17 konnte sie sich schließlich öffnen und wurde von ihrer Familie auch „radikal akzeptiert“

https://youtu.be/mFi1YMvkJqU

Bakers Musik kann als Mix zwischen Alternative, Emo, Folk und Post Rock bezeichnet werden. 2015 erschien das Debüt-album Sprained Ankle, 2017 folgte Turn Out the Lights. 2018 schloss sie sich mit ihren Freundinnen Phoebe Bridgers und Lucy Dacus zur Superband Boygenius zusammen, Anfang dieses Jahrs erschien das dritte Solo-Album Little Oblivions. Im Gegensatz zu den Vorgängern, tauscht Baker hier die akustische Gitarre gegen eine volle Bandbesetzung. Der Sound wird lauter und elektronischer, die Texte bleiben aber höchst persönlich.

REVIEW

Der Vollständigkeit und Fairness halber sei wie schon bei Phoebe Bridges und Lucy Dacus erwähnt, dass Julien Bakers Stärke im Songwriting liegt. Nachdem das geklärt ist, können wir uns also getrost in die zwölf Songs des Albums hineinwerfen. Baker hat trotz ihres jungen Alters schon einiges mitmachen müssen, die überstandene Drogenabhängigkeit, Depressionen und ihr religiöser Hintergrund – die damit einhergehenden Werte – bestimmten oder bestimmen immer noch ihr Leben. Der Umgang mit all diesen verschiedenen Problemen und Herausforderungen bildet das Grundgerüst dieses Albums. Dabei geht sie schonungslos offen mit sich selbst ins Gericht und versucht ein klein wenig Vergebung zu finden. Vergebung, vor allem für und von sich selbst.

Hardline, der Opener, klingt anders, als man es bisher von Baker gewohnt war. Schriller, lauter – eine Band ist eben mit dabei. Julien singt über einen möglichen Rückfall, benennt die einzelnen Phasen eines solchen sehr genau und weiß, was als nächstes kommen würde.

I always told you you could leave at any time
Until then, I’ll split the difference
Between medicine and poison
Take what I can get away with
While it burns right through my stomach
I’m telling my own fortune
Something I cannot escape
I can see where this is going
But I can’t find the brake

Sie schreit fast, dass sie die Bremse nicht finden kann. Ihr Arrangement unterstützt sie dabei, Gitarren klingen schrill, Streicher und Synthi geben die Stimmung ihrer Texte wieder. Eine stetige Steigerung bis zum famosen Ende, das ihre Verzweiflung widerspiegelt.

Deutlich unchaotischer geht es in Heatwave zu, der Synthi bestimmt das Thema zwischen den Strophen, ein Klavier dezent im Hintergrund, den Rest besorgen die Gitarren und Bakers Vortrag. Ein Song über eine Panik-Attacke und der Gewissheit, dass alles irgendwann ein grausames Ende nehmen wird. Man kann die Lyrics ganz düster interpretieren und sogar suizidale Absichten hineinlesen – oder man sieht es versöhnlicher und sieht einen neuen Zugang zum Leben mit ihren Ängsten. Faith Healer behandelt die Sehnsucht nach dem nächsten Glücksgefühl, vor allem auf Grund von Drogen. Das Klavier und das Schlagzeug peitschen sie durch den Song, sie selbst fleht einen Faith Healer an, ihr zu helfen. Im einen Moment scheint alles gut zu funktionieren, im anderen alles zusammenzubrechen – so ist auch das Lied aufgebaut. Elegisch besingt sie in Real Fiction ihren christlichen Hintergrund und ihre Suchtkrankheit. Mit Dauer nimmt der Song Fahrt auf, bis sie schließlich sagt, dass sie keinen Retter, sondern nur jemanden braucht, der sie nach Hause bringt.

Fast schon unaushaltbar traurig ist die Geschichte die Julien in Crying Wolf präsentiert. Der Kreislauf einer Süchtigen, vom Rückschlag als Antialkoholikerin bis zur ständigen Bitte um Hilfe. Die Fabel des Kindes, das immer vorm Wolf warnte, diente zur Inspiration. Julien will es sich nicht so einfach machen, sondern einfach auf ihre Probleme hinweisen. Das adressiert sie auch in Bloodshot:

Isn’t like I do this on purpose
I just forget the second I’ve learned it
Looking for little oblivions
I’d do anything knowing you would forgive me, oh

Die Erlösung kann bei ihr immer auf Gott bezogen werden. Die Song macht betroffen – wieder einmal – hat dennoch ein – kurzes – versöhnliches musikalisches Ende.

Wir bewegen uns in den immer gleichen Gefilden – Jesus, can you help me now? fragt sie in Ringside. Wie so oft beginnt sie ruhig und baut zum Ende hin einen Höhepunkt, diesmal angeführt von einem Klavier, das die vielen anderen Klänge anführt. Julien beschließt dieses Highlight mit dem Geständnis: Nobody deserves a second chance / But I keep giving them.

Die Selbstzweifel, ja fast schon der Selbsthass, wird in Favor näher ausgeführt. Man kommt langsam an den Punkt, wo man Julien einfach in den Arm nehmen will und ihr immer und immer wieder sagen will: „Es ist ok. Du bist genug. Du verdienst es, zu leben“. Favor wird von Phoebe Bridgers und Lucy Dacus unterstützt.

In der wunderbar dezenten Klavierballade Song In E bittet Julien um Bestrafung für den Schmerz, den sie anderen, aber auch sich selbst zufügte. Mit Vergebung kann sie nicht umgehen, schon gar nicht, wenn sie weiß, welches Leid sie ausgelöst hat. Das Lied ist das reduzierteste des Albums, zugleich aber auch eine der rausten und direktesten Nummern.

Repeat beginnt hoffnungsvoll, vor allem wegen des Klaviers, entwickelt sich inhaltlich zum Albtraum und auch musikalisch zu einer düstereren Angelegenheit. Der Aufbau von Highlight Reel gehört zu den interessantesten des Albums. Mal ist die akustische Gitarre im Vordergrund, mal das Klavier, mal die Percussion. Julien singt über Panik Attacken und den Moment, bevor man stirbt, das Highlight Reel von all den Lügen, die man im Laufe seines Lebens aufgebaut hat.

Auf Ziptie passiert nicht mehr viel Neues. Die Musik ist mittlerweile bekannt, die textlichen Thematiken auch. Einzig das an ein Radar anmutende Schlusspiepen bringt noch einmal ein wenig Schwung in die Scheibe.

FAZIT

Dieses Album war für Julien Baker extrem wichtig. Das kann man an fast allen Stellen ihrer Texte herauslesen. Sie geht hart mit sich selbst ins Gericht – die ärgsten katholischen Konservativen dürften sehr begeistert sein – fast schon zu hart. Der Struggle den sie beschreibt kann für einen Nicht-Süchtigen nur in kleinen Ausmaßen nachvollzogen werden. Aber die Aufrichtigkeit und Eindringlichkeit ihrer Lyrics lassen erschaudern. Musikalisch bewegen wir uns auf der sicheren Seite. Wenig Experimente, trotzdem einige Highlights, aber auch einiges, woran man noch arbeiten hätte können. Definitiv kein leichtes Album ob des Inhalts.

3,5/5 Pandroids (7 von 10)

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